Kasimir, der Kater, sitzt auf dem allerschönsten Fensterbrett der Welt und blickt zufrieden in den Garten. Sein Vater Thilo ist der beste Mensch überhaupt, das weiß Kasimir ganz genau. Jeden Morgen krault Thilo ihm hinter den Ohren und stellt ihm frisches Futter hin. In Kasimirs kleiner Welt ist alles gut und voller Wärme. Er schnurrt, denn er ahnt nicht, dass sich heute alles ändern wird.
Plötzlich holt Thilo eine unheimliche Kiste aus dem Schrank, die Kasimir gar nicht leiden kann. Es ist diese grüne Box mit dem Gitter vorne, aus der man nur hinein-, aber nicht wieder herauskommt. Thilo seufzt leise und flüstert: „Es muss sein, mein Kleiner, damit es dir besser geht.“ Doch Kasimir versteht in seiner aufkeimenden Angst die Worte nicht. Sein Schnurren erstirbt und sein Schwanz peitscht hin und her.
Ohne ein Wort zu sagen, hebt Thilo seinen kleinen Kater hoch, der sich vor Schreck ganz steif macht. Sanft, aber bestimmt setzt er ihn in die dunkle Transportbox und schließt das Gitter sorgfältig. Kasimirs Herz klopft wie eine kleine Trommel gegen seine Rippen. Es ist dunkel, es ist eng und das Allerschlimmste ist: Sein eigener Vater hat ihn eingesperrt.
Während Thilo die Kiste durch die Straßen trägt, wackelt und schaukelt sie. Durch die kleinen Luftlöcher sieht Kasimir nur bunte Streifen vorbeihuschen. Er miaut so laut er kann, erst fragend, dann wütend und schließlich verzweifelt. Doch die Box bleibt verschlossen und Thilos Schritte gehen unerbittlich weiter. Das fühlt sich wie Verrat an, denkt der kleine Kater.
Sie kommen in einen Raum, der merkwürdig nach Angst und Seife riecht. In Körben sitzen andere Tiere, die genauso unglücklich dreinsehen wie Kasimir selbst. Thilo stellt die Box neben einen Stuhl, geht zum Tresen und meldet sich an. Kasimir presst sein Gesicht gegen das Gitter und sucht panisch nach einem Ausweg.
Stellt euch vor, in diesem Moment geht die Eingangstür der Praxis auf und eine Frau mit einem Dackel kommt herein. Für einen kurzen Augenblick bleibt die schwere Tür einen Spalt weit offen, damit sie nicht ins Schloss fällt. Kasimir hat den Riegel seiner Box schon oft beobachtet und rammt nun mit aller Kraft seinen Kopf dagegen. Mit einem lauten „Klack“ springt das Schloss auf, und er schießt wie ein Pfeil aus der Kiste.
Draußen ist alles laut, riesig und für einen kleinen Stubenkater vollkommen fremd. Riesige Ungetüme auf Rädern rattern mit furchtbarem Lärm an ihm vorbei. Überall laufen viel größere Beine umher, die ihn beinahe zertreten. Kasimir drückt sich an eine Hauswand, sein Fell sträubt sich vor Angst. So hat er sich die große, weite Welt nicht vorgestellt.
Zum ersten Mal muss er sich ganz allein zurechtfinden, ohne Thilos schützende Hand. Als Kasimir über den Gehweg huscht, klingelt ein Fahrradfahrer wütend. Ein großer Hund bellt ihn von der anderen Straßenseite an, als wäre er sein Abendessen. Der kleine Kater lernt schnell, dass er hier flink und unsichtbar sein muss, um zu überleben.
Unter einem dichten Busch im Park findet er für einen Moment ein sicheres Versteck. Er zittert am ganzen Körper und lauscht den fremden Geräuschen der Stadt. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlt er sich schrecklich einsam und verlassen. Er denkt an sein weiches Kissen zu Hause und an Thilos warme Hände.
Als die Dämmerung hereinbricht, erkennt er in der Ferne den hohen Kirchturm, der ihm von seinem Fensterbrett aus immer entgegenragt. Mit neuem Mut macht er sich auf den langen und beschwerlichen Heimweg. Er schleicht durch fremde Gärten, balanciert auf Zäunen und meidet die lauten Straßen. Jeder Schritt bringt ihn seinem Zuhause ein kleines Stückchen näher.
Inzwischen tun ihm die Pfoten weh und sein kleines Bäuchlein knurrt vor Hunger. Doch die seltsame Hitze in seinem Körper wird immer stärker und lässt ihn frösteln. Manchmal muss er stehen bleiben, weil sich die ganze Welt vor seinen Augen zu drehen scheint. Sein starker Wille, nach Hause zu kommen, kämpft gegen seinen immer schwächer werdenden Körper.
Nach einer gefühlten Ewigkeit riecht er endlich den vertrauten Duft seiner eigenen Straße. Da ist die Haustür, hinter der sein ganzes Glück wohnt. Mit letzter Kraft springt er auf das Fensterbrett des Wohnzimmers und kratzt an der Scheibe. Er sieht, wie Thilo mit sorgenvollem Gesicht auf die Straße starrt.
Thilo springt auf, als er Kasimir sieht, und reißt die Tür auf. Er hebt Kasimir ganz behutsam hoch und drückt ihn fest an sich, als hätte er Angst, ihn wieder zu verlieren. „Da bist du ja, mein kleiner Ausreißer“, flüstert er, und seine Stimme zittert. Als Thilos kühle Hand Kasimirs heiße Stirn berührt, beginnt dieser langsam zu verstehen.
Zurück im Zimmer bekommt er auf seinem weichen Kissen eine bittere Medizin in sein Mäulchen geträufelt. Sie schmeckt nicht gut, doch schon bald merkt er, wie das Fieber nachlässt. Thilo sitzt die ganze Zeit neben ihm, streichelt ihn sanft und bleibt bei ihm, bis er einschläft. Nun weiß Kasimir, dass die Fahrt in der Box kein Verrat war, sondern ein Akt der größten Fürsorge.